singen „Tokio Hotel“. Wir müssen hier nicht noch einmal von der gewohnten Unklarheit, ja Unlogik der Bezüge in Tokio-Hotel-Texten reden – auch in diesem Lied wird wieder einmal der Tonfall der Krise, bzw. der einer emo-kritischen Antwort auf sie, getroffen. Und das ist nicht despektierlich gemeint. Eine ungemein zu Herzen gehende Melodie und die radikale Performance von Bill Kaulitz tun ein Übriges, um uns zur Erfahrung des „ganz Anderen“ zu überreden:
Wir werden euch nie mehr gehören
Wir werden nie mehr auf euch schwören
Wir schlucken keine Lügen mehr
Nie mehr
Eure Wahrheit wollen wir nicht
Eure Masken
Unser Gesicht
Unsere Augen brauchen Licht
Viel mehr Licht
Lass die Hunde los – Ich warn dich
Lass die Hunde los – Folg uns nicht
Lass die Hunde los
Wir wissen den Weg
Ham Träume die ihr nicht versteht
Lasst los
Bevor was passiert
Unter euch ersticken wir
Lass die Hunde los
Lass die Hunde los
Lass die Hunde los
Lass uns frei
Lass uns frei
Wir riechen Blut
Und lieben wild
Wir beißen jeden
Der uns quält
Der Mond ist
Unser Spiegelbild
Heute Nacht
Lass die Hunde los – Ich warn dich
Lass die Hunde los – Folg uns nicht
…
Jagt uns Folgt uns
In den Vollmond
Jagt uns Folgt uns
In den Vollmond
Folgt uns Jagt uns
In den Abgrund
Lass uns frei
…
Die Tupfer aus Blut, wild und quält, Gefangenschaft, Freiheit, Nacht und Licht – all das rundet sich zu linksradikaler Emo-Ästhetik: Unangepasstheitheit als Wert an sich; nur wir und die Natur sind übrig geblieben (alles andere ist schon vor die Hunde gegangen, verrottet und verkommen); wir Stadtindianer haben unser eigenes Gesetz; wir fürchten nichts mehr, als das langweilige (gebundene) Leben; euch gehört die Macht, uns die Nacht.
Gerade weil ich so gut die Verzweiflungswallungen kenne, die man erleidet, wenn niemand mehr die eigene Sehnsucht nach dem aufregenden, echten, radikalen Leben teilt, möchte ich daran erinnern, dass die Träume vom „ganz Anderen“ regelmäßig in zuvor unvorstellbaren Massakern mündeten. Wir hören im Lied selbst, was Subversion der Ordnung meint: Folgt uns / Jagt uns / In den Abgrund…
In diesem Sinne wünsche ich ein ruhig fließendes, geordnetes 2010, in dem wir alle uns nach Kräften bemühen, irgend einem bestehenden Mißstand abzuhelfen; so viel Harmonie wie möglich, so viel Streit wie nötig; Verständnis füreinander und die Liebe zur Eigenart des Anderen. Damit Krise und Panik nicht auch noch unsere Seelen fressen.
Nur daß ihr Ossis eben nicht wißt, was das ist: „Amerikanisierung“. 😀 😉
Soll ich Ihnen sagen, wie ein typischer Amerikaner vom echten, alten Schlage auf eine Erscheinung wie „Tokyo Hotel“ reagieren würde ? Sie wären ihm ein weiterer Beweis für seine lange gehegte Vermutung, daß Europa dabei ist, in Dekadenz zu versinken. Nicht ohne Grund firmieren Europäer im Weltbild vieler Amerikaner unter dem Etikett „Eurofags“ oder „Eurotrash“.
Was enthusiasmierten Lobrednern der sog. „Amerikanisierung“ als erfreuliches Symptom ebenderselben gilt, wird von Amerikanern, die Europa bereisen, als bedrohliches Anzeichen des europäischen Niedergangs wahrgenommen, und gerade Deutschland genießt jenseits des Atlantiks den Ruf, ein hoffnungslos dekadentes Land geworden zu sein. Anekdoten über schwule Politiker waren in den ersten Jahren dieses Jahrzehnts ein Lieblingsthema der großen angelsächsischen Presse, wenn es um Deutschland ging.
„Effeminate European Males“, denen der letzte Tropfen Testosteron aus dem Leib gezüchtet wurde, sind ein Lieblingsthema meines alten Freundes Walter Y., der eine mustergültige amerikanische Erfolgsgeschichte hinter sich hat: geboren als Sohn irisch-katholischer Farmer in Wisconsin, in bitterer Armut aufgewachsen, Golfkrieg II-Veteran (als Matrose auf einem Flugzeugträger), Harvard Law School-Absolvent, heute weltweit operierender corporate lawyer, leitet seit einigen Jahren in Dubai die Außenstelle einer traditionsreichen NYer law firm. Katholischer Fundamentalist. Sein soziales Ideal: eine free market-Version der Franco-Diktatur.
Die Ahnungslosen, für die „Amerikanisierung“ etwa soviel bedeutet wie: erfreuliches Fortschreiten zur Dekadenz hin; sie sitzen dem falschen Schein auf, Amerika sei identisch mit seiner Populärkultur, mit Hollywood, Hip Hop, Girls Gone Wild, MTV, Haight-Ashbury und was dergleichen mehr ist. Die Wahrheit sieht so aus, daß Amerika im Gegensatz zu Europa nur an seinen äußersten östlichen und westlichen Rändern dekadent ist.
[…] Vor einem Jahr habe ich allen ein ruhig fließendes, ein „geordnetes“ neues Jahr gewünscht. Ich weiß nicht, wie es Ihnen ging – mir waren schon ruhigere Jahre beschieden. Nun ja, das Leben ist kein Wunschkonzert, der da oben wird schon wissen, was er macht und wahrscheinlich ist sein liebstes Erziehungsinstrument für die irdischen Verrückten das Handeln nach der Devise: Der Mensch wächst mit seinen Aufgaben. Ich habe dieses Jahr so viele tote Menschen gesehen, wie mein ganzes vorangegangenes Leben nicht – an jedem Bett habe ich gebetet; doch ich bin ein zu schlechter (d.h.: moderner) Katholik, als dass mir in terms of Demenz, Depression, Lähmung, Blindheit und Tod der semantische Komplex „Erleichterung – es schaffen – Erlösung“ sofort präsent wäre. […]
[…] keinen Feldweg, wer mit uns ist, rast vorwärts – in den Kommunismus hinein. An einem Schild: „No Dogs!“ wird wieder gestoppt. Was wollen die von uns? Als ob wir noch Wölfe wären…! Seht doch, wie […]
[…] Bellen, treuherzig mit den Ohren wackeln, knurren und anspringen. Fürs Erste sollte das reichen. Blut, wild, Licht und Träume? Ach nein, bitte nicht mehr – und überhaupt: Lügen hat zuweilen unser Leben gerettet. Doch […]